Reportage
MEIN OKTOBERFEST
10 Jahre habe ich in München gelebt und bin trotzdem kein Fan von diesem Fest geworden. Meinen ersten Besuch werde ich nie vergessen. Schon nach 5 Minuten war ich Zeugin einer blutigen Auseinandersetzung unter Männern, nach einer Stunde landete ein Liter Bier auf meinem Dirndl. Dann wurde ich von einem Kellner mit einem Krug angerempelt - ein Stück Zahn brach mir ab. Zum Schluß, auf dem Weg zum Ausgang, fiel ein Mann vor meinen Füßen um und bekam einen Gehirnschlag. Das alles passierte innerhalb von vier Stunden.
Ich musste erst nach Berlin umziehen, um dem Oktoberfest eine Chance zu geben. Dabei halfen mir zahlreiche Fotoaufträge über die Wies‘n. In den Jahre habe ich das Fest praktisch auseinandergenommen, um meine Angst zu überwinden. Ich fotografierte beim Auf- und Abbau und während dem Fest vor und hinter den Kulissen. Am meisten faszinierte mich der Aufbau der Zelte. Untermalt vom Klang der Flaschen und Krüge, verteilte sich allmählich der Geruch des Holzes über das gesamte Gelände. Die Anspannung konnte man schon in der Luft spüren. Immer wieder hörte man das Gelächter der Arbeitskräfte und sah ihre Wiedersehensfreude.
Für mich könnte es so bleiben, ohne den Menschenandrang, ohne Schreie aus der Achterbahn, ohne die laute Musik, ohne die Notfälle und den Pissegeruch auf dem Bavaria Hügel.
Am meisten mag ich das Familienwochenende mit dem großen Staunen und der Freude auf den Gesichtern der Neuankömmlinge, aber auch die Zufriedenheit der Stammgäste. Es ist leicht, sich dort wie zu Hause zu fühlen, weil alles seinen festen Platz hat - jedes Zelt, jedes Karussell. Alles bleibt fast unverändert, auch die Kleidung.
Nur ab und zu schreibt die Mode den Frauen die Tiefe des Dekolletés, die Länge des Dirndls und die Art des Kopfschmucks vor.
Das Aussehen der Gäste hängt davon ab, in welchem Zelt sie feiern. Je besser das Zelt, desto teurer die Kleidung. Dort möchte man gesehen werden und sich von der besten Seite präsentieren. Da kann auch es mal daneben gehen, zu viel Botox, zu viel Busen, zu viel Alkohol.
Mittlerweile kann ich mich auf der Wies’n zurecht finden und kann trotz des bunten Treiben meine Ruhe finden und sehen was dahinter steht.
In der Regel dauert die Wies’n zwei Wochen, die wie im Flug vergehen. Danach bleibt eine große Stille; nicht nur auf dem Gelände; auch in der ganzen Stadt. Jetzt sieht es nicht mehr so steril sauber aus wie vor dem Fest. Ich finde im Chaos die Schönheit.
Jeden Tag habe ich dort verbracht und beobachte danach Entzugserscheinungen an mir. Was soll ich jetzt mit meiner Zeit anstellen? Wie soll ich mich ohne Ellenbogen unter den Menschen bewegen, mich in einer normalen Lautstärke unterhalten und statt dem Dirndl eine Jeans tragen?